Menschen, ganz besonders Kindern lernen – unter anderem – durch Beobachtung und Imitation.
Verantwortlich dafür sind sogenannte Spiegelneuronen.
Wenn ich einen Tennisschlag ausführe, feuern die gleichen (Spiegel-)Neuronen, wie wenn ich jemandem beobachte, der einen Tennisschlag ausführt. Dasselbe hat man beobachtet, wenn jemand weint oder jemanden einen anderen beobachtet, der weint. Dieselben (Spiegel-)Neuronen feuerten, ob man selbst die Bewegung ausführt oder eine Gefühlsregung zeigt, oder ob man jemand anderen dabei beobachtet.
Im Gehirn ist in beiden Fällen das gleiche Aktivitätsmuster der betreffenden Spiegelneuronen zu erkennen. Deshalb geht man davon aus, dass diese Art von Neuronen dafür verantwortlich ist, dass wir durch Beobachtung lernen.
Man geht in der Neurobiologie davon aus, dass gewisse Entwicklungen, die ein Mensch als Kind macht, genetisch programmiert sind, dass also Kinder sie auch dann ausführen würden, wenn sie diese nicht in ihrem Umfeld beobachten könnten. Für alles andere, was wir eben erlenen müssen, sind die Spiegelneuronen verantwortlich.
Da Stabhochsprung nicht zu den genetisch angelegten Programmen der Menschen gehört, befassen wir uns im Folgenden mit Spiegelneuronen und nicht mit genetisch festgelegten Programmen.
Spiegelneuronen sind die Erklärung für einige Phänomene beim Stabhochsprung.
- Hot Spots
Über alle Bereiche menschlicher Fähigkeiten ist zu beobachten, dass sich Höchstleistungen punktuell geographisch verdichten. In Island gibt es überproportional viele gute Fussballer, in Basel oder Bern seit jeher überproportional viele gute (Schweizer) Stabhochspringer, in Leverkusen oder Paris überproportional viele Weltklasse Stabhochspringer. Athleten mit Leistungspotential zieht es dort hin und es scheint, als:
- Entweder man wird an einem solchen Hot-Spot zum Spitzenathleten. Spitzenleistung perpetuiert sich an solchen Orten, auf gute Leistungen folgen weitere gute Leistungen
- Oder man wird an einem beliebigen anderen Ort kein Spitzenathlet im Stabhochsprung. Spitzenleistungen werden an diesen anderen Orten nicht erreicht, das Niveau stagniert auf mediokrem Niveau.
Man könnte nun einwerfen, an Hot Spots seien schlicht die besten Coaches und die beste Infrastruktur zu finden. Das ist in der Regel so, erklärt aber auf kurze Sicht nicht den Erfolg der Hot Spots.
Das möchte ich an folgendem Beispiel aufzeigen:
Trainer A ist fachlich ein Experte. Er trainiert Athleten mit einem Niveau von 5.00m bis 5.80m in bester Infrastruktur. Athlet B schliesst sich aufgrund seiner bisherigen Leistungen (5.00m) der Trainingsgruppe.
Trainer B ist fachlich ebenfalls ein Experte. Auch an seinem Trainingsort ist die Infrastruktur ausgezeichnet. Derselbe Athlet wie vorhin, mit einem Niveau von 5.00m findet dort allerdings eine Trainingsgruppe von Athleten mit einem Niveau zwischen 3.20m und 4.40m vor.
Derselbe Athlet kann in der Trainingsgruppe A ein Niveau von 5.80m erreichen, während er in Trainingsgruppe B sehr wahrscheinlich nicht über 5.30m hinauskommt. Das ist in etwa der Unterschied, ob man in Leverkusen trainieren kann oder beim Leichtathletikverein XY in der Schweiz.
Dem Athleten fehlen in der Trainingsgruppe die Vorbilder. Die Spiegelneuronen erhalten nicht das richtige Futter, um die Bewegungen des Athleten weiter zu verbessern. So einfach ist das im Grunde.
Man kann auch die permanente Stagnation im Stabhochsprung bei den Männern in der Schweiz als Beispiel herbeiziehen. Alle 5 Jahre springt jemand 5.50m – und das war es dann auch schon wieder (Gigandet, Frey, Richards und Alberto). An den Trainern liegt es nicht und die Infrastruktur in der Schweiz zwar verbesserungswürdig, aber es gibt keinen Grund, weshalb mit der Infrastruktur in z.B. Magglingen, St. Gallen, Zürich Basel und Winterthur/Frauenfeld nicht mehr Spitzenathleten heranreifen. Meine Erfahrung ist, dass andernorts, wo regelmässig 5.50+ Springer geformt werden, mit demselben Wasser gekocht wird.
Den Unterscheid macht das Futter, dass die Spiegelneuronen erhalten.
Ein Athlet, der täglich Springer auf einem Niveau von 5.50+ beobachten kann, sieht einen Weg vor sich dorthin. Er weiss, welche Schritte seine Vorbilder gemacht haben, er kann sich mit ihnen austauschen und messen.
Ein Athlet, der 5.50m springen will und der sich von 4.00m-Springern umzingelt sieht, ist stets auf sich alleine gestellt, fühlt sich wie der erste Mensch am Mount Everest. Was andere schon gemacht haben, muss er sich selbst erarbeiten. Gleichzeitig geniesst er schon den leistungshindernden Applaus seiner Vereinskollegen und seines Umfelds – aus dem er schon als Star herausragt. All das bremst die Leistungsentwicklung.
Meine Athleten hatten vom Moment, in dem sie mit 15/16 Jahren mit Stabhochsprung begannen, immer ein Vorbild, dass zwischen 5.20m und 5.00m sprang. Alles was sie zu tun hatten, wurde ihnen visuell vorgeführt. Plus ich konnte Ihnen bei jeder Übung die Unterschiede zu ihnen erklären, weil ich sie soeben gerade selbst ausgeführt hatte und spürte, was die Übung erforderte. Ihre Spiegelneuronen feuerten, wenn ich sprang und meine Spiegelneuronen verglichen mein Gefühl beim Springen, mit dem was ich bei meinen Athleten sah. Ich bin überzeugt, wenn ich die gleichen 5 Jahre nur neben der Anlage gesessen wäre, wären alle meine Athleten heute nicht so weit, wie sie sind, denn ich hatte keine anderen Athleten, von denen sie sich etwas hätten abschauen können. Das ist das Problem, dass jeder Trainer über 40 Jahren hat, wenn er eine neue Stabhochsprunggruppe aus dem Nichts hervorbringen will – ohne visuelle Vorbilder, ohne Futter für die Spiegelneuronen.
Wo nichts ist, kann nur langsam etwas werden.
Auch in Leverkusen, Paris oder Clermont-Ferrand gab es vor 100 Jahren noch keine 5.50m-Springer. Aber es gab seit den 70er Jahren konstant immer eine gewisse Masse an guten bis sehr guten Springer aus denen sich regelmässig absolute Top-Athleten hervortaten.
Wir haben in der Schweiz beispielsweise in St. Gallen eine grundsätzlich ganz wunderbare Indoor-Infrastruktur. Aber da ist noch niemand. Entschuldigt, damit meine ich Springer über 5.00m. Es braucht zunächst viele 4.50m Springer bzw. 3.50 Springerinnen (mit viele meine ich 5-10), bevor sich etwas in Richtung einer Gruppe von 5-Meter-Springern bzw. 4-Meter-Springerinnen entwickeln kann. Und darauf folgt dann irgendwann eine Gruppe von 5.30m-Springern und 4.30m-Springerinnen.
Was braucht es dafür, wenn die Infrastruktur vorhanden ist?
Sehr gute Coaches, die genug Zeit haben (was mir zum Beispiel fehlt).
Und weiter? Intelligent ausgesuchte Athleten. Damit gemeint ist, dass sich nicht jeder zum Stabhochspringer eignet. Eine Stabhochsprunggruppe kann aber nicht grösser als 5-6 Athleten sein. Dem Coach brummt schon bei gleichzeitig 3-4 Athleten der Kopf, wenn er seinen Job ernst nimmt. Und Coaching-Zeit lässt sich beim Stabhochsprung nicht beliebig stückeln. Wenn jeder Athlet nur noch 1/10 der Aufmerksamkeit erhält, dann werden eben auch beim besten Trainer nicht dieselben Leistungen erreicht, wie wenn dieselben Athleten ¼ der Zeit des Trainers erhalten.
Das bedeutet etwas fies formuliert: jeder nicht für Stabhochsprung „talentierte“ oder motivierte Athlet nimmt einem anderen potentiellen Kandidaten für eine gewisse Zeit lang die Chance, Stabhochsprung zu trainieren oder er verwässert das Coaching-Niveau, weil der Coach dem einzelnen Athleten weniger Zeit widmen kann.
Die GG Bern hatte einmal 3-4 Springer gleichzeitig über 5.00m. OB Basel 2-3 Athleten. Winterthur 2-3 Athleten. Was es braucht ist nicht nur, dass das zur selben Zeit der Fall ist, sondern es braucht etwa doppelt so viele Athleten diesen Niveaus, damit wir den Schritt über 5.50m hinaus machen und dies auch nachhaltig bleibt. Ein 5.50m Springer kommt und geht. Wenn er weg ist, kann niemand mehr von ihm lernen. Geht ein junger Athlet heute nach Basel, ist da nichts mehr. Vor 7 Jahren hatte er zwei Athleten über 5.20m als Vorbilder. In Bern hatte ein junger Athlet vor 10 Jahren drei Vorbilder über 5.00m. Heute? Nichts. Das Feld der Stabhochspringer ist komplett auseinandergefallen. Jeder der irgendwo über 4.80m springt, ist sofort alleine auf dem Mount Everest und findet nur noch in Dominik Alberto ein Vorbild.
Die Frauen haben es da besser. Über Ihnen schwebt immer noch irgendwo ein mittelmässiger Mann. Wenn eine Frau 4.00m springt, dann sieht sie, dass es nicht so schwierig sein kann 4.20m zu springen, wenn ein mittelmässiger Jugendlicher das schafft. Natürlich sind das Männer, aber es hilft den Spiegelneuronen eben trotzdem. Wenn wir Männer eine Übergattung vor uns hätten, die 6.30m Springen würden, hätten wir auch Vorbilder im Training.